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[Interview] Norman Ohler: Der totale Rausch.

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Ohler_Rausch_fbm15_2Auf der Frankfurter Buchmesse hatte ich die Gelegenheit, mit Norman Ohler über sein neues Buch Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich zu sprechen.

 

Warum hat ihr Buch statt eines Vorwortes einen Beipackzettel?

Es ist mein erstes Sachbuch und ich bin ja von Haus aus Romanschriftsteller. Von daher versuche ich immer sehr lebendige und lustige oder anrührende oder emotionale Bücher zu schreiben. Beim Sachbuch hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, dass es kein langweiliges historisches Sachbuch wird. Statt eines Vorwortes, das sozusagen die langweilige oder die konventionelle Form gewesen wäre, habe ich etwas anderes versucht.

Das ganze Buch handelt von Drogen im Dritten Reich und könnte vielleicht auch wie eine Droge funktionieren. Oder wie ein Arzneimittel, weil es auch heilsame Effekte haben könnte. Dadurch könnte man die Zeit des Dritten Reichs vielleicht ein bisschen besser verstehen. Deswegen habe ich das Vorwort „Beipackzettel“ genannt.

 

Welches Verhältnis haben Literatur und Historiographie in ihrem Buch?

Weil es mein erstes Sachbuch war, habe ich mich auch damit auseinander gesetzt, was ein Sachbuch überhaupt ist. Das Genre behauptet ja, dass darin Wahrheit verhandelt wird und dass es da um Fakten geht und dass das alles nachprüfbar ist. Ich stehe diesem Ansatz als Romanschriftsteller etwas skeptisch gegenüber, weil ich denke, dass letztlich alles Fiktion ist.

Natürlich basiert ein Sachbuch immer auf Quellen. Das ist im totalen Rausch auch so. Es gibt ja einen umfänglichen Apparat. Und dann werden diese Quellen natürlich von Historikern interpretiert. Im Grunde wird ja von Historikern letztlich immer „nur“ Literatur geschaffen. Und deshalb sage ich auch, dass der totale Rausch Literatur ist. Das hat der Spiegel ja auch richtig so erkannt.

 

Pervitin wurde als Kokurrenzprodukt zu Coca-Cola beworben. Was ist das?

Pervitin ist ein Produkt, das 1937 von den Temmler-Werken in Berlin patentiert wurde. Das war damals ein Arzneimittel, das man in der Apotheke kaufen konnte. Der Wirkstoff von Pervitin war Methamphetamin.

Diesen Stoff kennt man heute als Crystal Meth. Das ist eine sehr starke Droge, aber das wusste man damals noch nicht. Man wusste nur, dass man davon erstmal wach und glücklich wird. Von daher ist das wie eine Coca-Cola, aber ungefähr 100x stärker.

 

Wie ging man mit Nebenwirkungen & Risiken um, sofern die überhaupt schon bekannt waren?

Zunächst einmal war vor allen Dingen die belebende Wirkung relativ schnell bekannt. Man hat an Nebenwirkungen noch nicht gedacht. Man dachte nicht, dass Pervitin eine Droge ist. Man hat das wie so eine Art Allheilmittel gegen alles Mögliche eingesetzt. Als sich dann irgendwann herausstellte, dass es auch Nebenwirkungen gibt, da war man erstmal verwundert. Vorher haben sich auch die deutschen Universitäten fast nur löblich sich über das Pervitin geäußert.

Erst nach zwei bis drei Jahren Verbreitung auf dem Markt hat man sich die Nebenwirkungen genauer zur Brust genommen. Im Herbst 1939 wurde es rezeptpflichtig und im Sommer 1941 wurde es dann sogar unter das Opiumgesetz gestellt und war dann eine illegale Droge.

 

Wie passt Pervitin zu einem Staat, in dem Drogensüchtige ins KZ kamen und in dem Hitler sich als Abstinenzler präsentierte?

Es zeigt eine weitere Scheinheiligkeit des NS-Regimes, das nach außen hin die Drogen verteufelt hat. Pervitin, was sie zunächst nicht als Droge deklariert haben, wurde systemstabilisierend eingesetzt.

Wenn man sich Hitler anguckt, sieht man auch da, dass er bis zum Ende behauptet hat, dass er Abstinenzler, also auch Vegetarier, sei und äußerst gesund und genügsam lebe. Wenn man sich anschaut, was er konsumiert hat, stellt sich das absolute Gegenteil heraus. Er hat nämlich tierische Hormoninjektionen bekommen, also er war überhaupt kein Vegetarier. Er hat sich Schweineleberextrakte intravenös applizieren lassen. Außerdem hat er sehr viele klassische Drogen genommen, wie zum Bespiel das Eukodal, was ein Abkömmling des Opium ist.

 

Was änderte sich nach dem Attentat an Hitlers Drogenkonsum?

Der Drogenkonsum wurde nach dem Attentat noch sehr viel schlimmer, als er davor schon war. Direkt nach dem Attentat von Stauffenberg fing Hitler an, Kokain zu nehmen. Von Anfang August bis Anfang Oktober 1944 hat er sehr viel Kokain genommen, um sich sozusagen wieder aufzubauen. Er war durch das Attentat doch ziemlich niedergestreckt, obwohl er nicht schwer verletzt war. Seine Verletzungen waren sehr schmerzhaft und er betäubte sie mit Kokain. Das sollte ihn wieder fit, glücklich und euphorisch machen.

Im September und Oktober 1944 kam dann noch verstärkt Eukodal hinzu, eines der schwersten Betäubungsmittel, die es überhaupt gibt. Es ist mit dem Heroin verwandt. Das hat Hitler dann genommen, um eine euphorische Grundstimmung beizubehalten, die er gerade in den Lagebesprechungen brauchte, als ihm die Generäle immer wieder erklären wollten, dass der Krieg doch schon längst verloren sei.

 

Von der Oma einer Freundin habe ich gehört, dass sie in der Nachkriegszeit sogenannte Hallo-Wach-Pillen genommen hat, die ihr dazu verholfen haben, innerhalb einer Woche nur elf Stunden zu schlafen und ansonsten durchzuarbeiten. War nach dem Zweiten Weltkrieg und der Naziherrschaft also nicht Schluss mit dem Pervitinkonsum?

Ich habe mir Statistiken angeschaut. Die Pervitinverkaufszahlen gehen in den 50er Jahren wieder nach oben. Als Deutschland in Trümmern lag, gab es noch sehr viel Pervitin auf dem Schwarzmarkt. Die Wehrmacht hatte ja sehr viel davon eingekauft, aber es kam wohl nicht alles zum Einsatz. Das ging dann in den Schwarzmarkt.

Ich habe auch schon mehrfach gehört, dass dieses Pervitin als Hallo-Wach-Pille in der Bevölkerung bekannt war. Das heißt, das deutsche Wirtschaftswunder der 50er Jahre basiert auch auf einer massenhaften Pervitineinnahme. Ob der Wirtschaftsminister Erhard das selbst genommen hat, weiß ich aber nicht.

 

Welche Bedeutung hatte Pervitin für das Militär?

Es hatte eine entscheidende Bedeutung, weil die Müdigkeit der größte Feind des Soldaten ist. Pervitin vertreibt die Müdigkeit. Deswegen hat die Wehrmacht beim Überfall auf Polen Pervitin zum ersten Mal massenhaft eingesetzt. Beim Überfall auf Frankreich, Holland und Belgien wurde es sogar planmäßig eingesetzt. Das heißt, es wurde vorher genau geplant, wie viele Tabletten besorgt werden und wie die verteilt werden.

Es wurden 35 Millionen Tabletten nur für den Frankreichfeldzug geordert und verteilt. Von daher war das Pervitin für die Wehrmacht sozusagen die pharmakologische Wunderwaffe.

 

Sie haben mit einem hochrangigen Vertreter des Sanitätsdienstes der Bundeswehr gesprochen. Wie steht die Bundeswehr zum Konsum von Aufputschmitteln und Drogen?

Der wehrmedizinischen Beirat der Bundeswehr debattiert seit einer Weile, ob leistungssteigernde Mittel eingesetzt werden. Ein offizielles Ergebnis gibt es noch nicht.

 

Dertotalerausch300Verändert Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich die Gesamtsicht auf das Dritte Reich und Hitler, der laut ihrem Buch ein Polytoxikomane war?

Ja, ich denke: Auf jeden Fall! Man kann das Dritte Reich im Grunde besser verstehen, wenn man das Buch liest. Wenn man diese Sachlage nicht zur Kenntnis nimmt, entgeht einem eine wichtige Komponente, ohne die man diese Zeit nicht verstehen kann.

 

 

Ohler, Norman: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015. 268 Seiten (19,99€)

 

Herzlichen Dank an Herrn Ohler für das Gespräch und an Frau Maier von Kiepenheuer & Witsch für die Organisation. Bald erscheint hier ein Lesebericht zum Buch, es ist wirklich fesselnd!


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